Viele Wege führen zum Ziel
Ein Beitrag von Elisabeth Wagner
Als ich 1997 mein Referendariat antrat, wurden wir Neulinge zunächst bei der Eröffnungsveranstaltung im Seminar von unseren Vorgängern mit einem kleinen Sketch begrüßt, der den Titel trug: „Wie bilde ich den perfekten Sitzkreis?“ (oder so ähnlich). An dem Tag wunderte ich mich noch über das Thema, denn ich dachte: „Das kann ja wohl nicht so schwer sein!“. Dass es das sehr wohl sein kann, erfuhr ich eine Woche später im Anfangsunterricht meiner 1 b.
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Meine Mentorin, Frau S., führte ein strenges Regiment und empfahl mir, dies zu übernehmen, wenn ich nicht wollte, dass mir die Kleinen auf der Nase herumtanzten. Und so demonstrierte sie mir als Erstes, wie sie mit den Schülern einen Stuhlkreis bildete, nämlich mit der Methode des „Mondgesichts“: Sie malte zuerst das linke Auge des Gesichts an die Tafel – das war für Gruppentisch 1 hinten links das Zeichen, mit den Stühlen nach vorn in einen Kreis zu kommen. Genauso verhielt es sich mit rechtem Auge, Mund und Nase, bis das Mondgesicht fertig war. Dabei legte Frau S. großen Wert darauf, dass die Kinder währenddessen mucksmäuschenstill waren. Ich gebe zu: Ich war sehr beeindruckt, obwohl mich das Ganze ein wenig an Dressur erinnerte. Nach ein paar Wochen Übung klappte auch bei mir die Stuhlkreisbildung wie am Schnürchen.
Eines Tages sollte ich in der Parallelklasse 1 a eine Vertretungsstunde halten und stand 30 fremden Augenpaaren gegenüber, die mich erwartungsvoll anschauten. Ich dachte, dass so ein kleiner Sitzkreis doch eine gute Möglichkeit sei, mit den Kindern warm zu werden. Gedacht, getan! Doch kaum hatte ich das Wort „Stuhlkreis“ ausgesprochen, schnappten sich alle Kinder gleichzeitig ihre Stühle und fingen an, lauthals ein Liedchen zu schmettern („Jedes Kind kommt in den Kreis geschwind …“). Innerhalb kurzer Zeit saßen die Knirpse im Kreis und waren wieder still.
Es muss ein Bild für Götter gewesen sein, wie ich mit offenem Mund dastand und dem Gewusel um mich herum zusah!
Ich weiß bis heute nicht, wie sich die Methode der Parallelkollegin nennt, aber an diesem Tag hatte ich gelernt, dass es viele Wege gibt, um einen (perfekten) Stuhlkreis zu bilden.