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„Autorität hat man nicht, sie wird einem zugesprochen“

Experteninterview mit Prof. Dr. Roland Reichenbach

Ein Beitrag von Veronika Renkes

Warum wer autoritär ist, keine Autorität hat, und was das für die Schule bedeutet, erläutert der Erziehungs- und Bildungsphilosoph Prof. Dr. Roland Reichenbach.

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© martin-dm in E+ via GettyImages

 

Der Begriff „Autorität“ löst bei uns Deutschen oft Unbehagen aus, ist gar verpönt. Warum?

Das hat wohl geschichtliche Gründe und zudem hängt es auch mit gesellschaftlichen Veränderungen zusammen. Mit dem Begriff werden Phänomene verbunden, die nicht dazugehören, wie Zwang, Gewalt oder Machtmissbrauch. So untersuchte der Sozialpsychologe Kurt Lewin 1939 den autoritären Erziehungsstil und sah darin die Gefahr des Faschismus. In den 50er-Jahren beschäftigten sich die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer mit der autoritären Persönlichkeit vor dem Hintergrund von Holocaust und Nationalsozialismus. Sie wollten  herausfinden, ob diese typisch deutsch sei. Sozialpsychologisch gesehen ist sie das aber sicher nicht. Denn Autorität ist ein Anerkennungsverhältnis. Um sie zu erhalten, müssen keine Zwangsmittel eingesetzt werden. Problematisch – und davon zu unterscheiden – sind allerdings autoritäres Verhalten sowie eine autoritäre Persönlichkeit. Autoritäres
Verhalten ist ein Zeichen dafür, dass die Anerkennung nicht mehr vorhanden ist und eine Führungsperson autoritäre
Mittel einsetzt, um Disziplin, Ordnung oder Anerkennung wiederzugewinnen.

Wie kann man feststellen, ob man „Autorität“ hat?

Wenn sich zum Beispiel ein Schüler von seinem Lehrer etwas sagen und zeigen oder sich korrigieren lässt, dann ist das ein Ausdruck von Autorität, die der Lehrer vom Schüler zugesprochen erhält. Diese Anerkennung ist aber limitiert, etwa bei einem Arzt, von dem man sich auch nur das sagen lässt, was die Gesundheit betrifft. Das Ziel einer pädagogischen Autorität besteht darin, sich selbst überflüssig zu machen, nämlich dann, wenn etwa das Lernziel erreicht oder ein Kind erwachsen geworden ist oder wenn es sein Verhalten selber steuern kann.

Was ist überhaupt Autorität?

Autorität wirkt in einem asymmetrischen Verhältnis. Wenn jemand akzeptiert, dass jemand anderes ihm in  bestimmten Bereichen etwas zu sagen hat, dann übt der andere auf ihn Autorität aus. Die meisten menschlichen Verhältnisse sind im Übrigen von dieser asymmetrischen Art. Das gilt in der Regel auch in Betrieben oder Organisationen. Wir pflegen zwar eine Moral der symmetrischen Kommunikation, bei der alle gleichberechtigt sind
und wir etwa von Mitarbeitern sprechen anstatt von Untergebenen. Im Hintergrund bleibt aber die Asymmetrie der
Beziehung bestehen und spielt dort eine bestimmte Rolle. Einfach zu sagen, Autorität wollen wir nicht, deutet also eher auf einen naiven Standpunkt hin. Es ist besser, zu versuchen, das Phänomen der Autorität zu verstehen und zu fragen: Was impliziert es und was bedeutet es für die pädagogische Ethik? Denn wer über mehr Macht und mehr Wissen verfügt, der besitzt auch mehr Verantwortung. Das heißt, er oder sie muss diese Anerkennung
von Autorität, diese Zuschreibung, auch verdienen.

Gibt es eine „natürliche“ Autorität?

Sozialpsychologisch und pädagogisch ist das Unsinn. Es gibt auch kein Gen für ein Alphatier oder Betatier und es ist nichts, was in jemandem drin steckt. Die Quellen, warum jemand als Autorität anerkannt wird, können vielfältig sein.
Es kann das Wissen, der Sachverstand oder das Können sein. Oder es hat etwas mit der Persönlichkeit und dem Charisma zu tun. Und dann gibt es noch die Amtsautorität, zum Beispiel die der Lehrer. Autorität ist also nicht irgendein Stil und sie ist immer zeitlich limitiert und auf ganz bestimmte Bereiche beschränkt.

Wie erwirbt man als Lehrperson Autorität?

Eine Lehrerin etwa kann von einem Teil der Schülerschaft als Autorität anerkannt werden und von dem anderen Teil aber nicht. Die Anerkennung hat immer etwas mit der Beziehung zu tun und nicht mit der Person. Denn sonst würde eine Person von allen immer gleich anerkannt oder eben nicht anerkannt werden. Eine Lehrperson braucht in einer Klasse genügend viele Schüler, die sie als Autoritätsperson anerkennen. Dann haben diese Schüler auch Einfluss
auf die anderen. Aber die Lehrperson muss die Anerkennung auch verdienen. Das heißt, wenn sich ein Lehrer immer nur negativ gibt und nie zeigt, dass er auch ein bisschen von seinen Schülern abhängt, dann funktioniert das nicht.

Lehrer sollen „Begleiter von Lernprozessen“ sein. Ist auch dafür Autorität nötig?

Offene Lehrformen helfen vor allem den guten und starken Schülern, die eigenverantwortlich und selbstreguliert lernen können. Aber mittelstarke und sogenannte leistungsschwache Schüler werden damit überfordert. Man vergrößert nur die Differenz zwischen den Leistungsschwachen und -starken. Schwächere Schüler brauchen mehr
Lenkung, kleinere Schritte, mehr Kontrolle und mehr Zuspruch. Wenn man über Autorität redet, dann sollte man
nicht an Macht- und Führungsfiguren denken. Das ist Unsinn. Es sind in erster Linie Eltern und Lehrer, die sich um die Entwicklung ihrer Kinder und Schüler kümmern und denen es nicht egal ist, wohin sie sich entwickeln. Erziehung
und Unterricht heißt auch, die Erwartungen an die Schüler sichtbar zu machen, die man damit verbindet.

Warum fällt es manchem Lehrer schwer, sich vor einer Klasse zu behaupten?

Das hat etwas mit sozialen Kompetenzen zu tun. Lehrer können sehr unterschiedlich sein und werden trotzdem als Autorität anerkannt. Diese Anerkennung ist nicht an ein bestimmtes Verhalten gebunden. Lange Zeit hat man geglaubt, dafür sei die Lehrpersönlichkeit verantwortlich. Diese ist dafür zwar wichtig, aber nicht sie allein. Ein  Lehrer kann schüchtern und trotzdem ein hervorragender Pädagoge sein. Zum Lehrersein gehört nun mal auch, sich mit seinem Körper vor den Schülern zu exponieren. Das muss man allerdings mögen. Nicht jedem fällt es leicht, sich vor eine Klasse zu stellen und etwas zu zeigen, zu berichten und einzufordern. Wer nur dasteht und nur begleiten oder moderieren will, hat ganz schnell keine Autorität mehr. Die Schüler müssen merken: Der will etwas von uns.  Wir müssen ihn nicht mögen, aber wir sind ihm wichtig.

Welche Faktoren begünstigen es, dass ein Lehrer Autorität hat?

Vorteilhaft ist es, wenn man als Lehrer Sicherheit, Vertrauen und Zuversicht ausstrahlt oder auch, wenn man einen bestimmten Humor an den Tag legt. Wenn man die Schüler mit feiner Ironie, aber eben nicht mit Zynismus,  anstachelt und motiviert – nach dem Motto: Jetzt hast du es nicht geschafft, aber beim nächsten Mal klappt es bestimmt, wenn du vorher mal in dein Buch schaust …, dann entsteht ein Bezug; der Lehrer kümmert sich um den Schüler und erhält dafür die Anerkennung als Autorität. Nur, dieser Bezug ist keine Beziehung. Der Lehrer darf auch nicht an einer Beziehung interessiert sein, sondern nur an der Entwicklung des Schülers in einer bestimmten Sache. Bei der pädagogischen Beziehung steht die Sache, die gelernt werden soll, zwischen den Beteiligten. Sie bestimmt das Verhältnis.

Welche Konsequenzen hat es, wenn ein Lehrer „Autorität haben“ mit „autoritär sein“ verwechselt?

Das ist wohl das Schlimmste, was man als Lehrer machen kann. Bei der Autorität geht es in Wirklichkeit um  Vertrauen. Wenn der Lehrer sich so benimmt, dass das Vertrauen nicht mehr aufrecht erhalten werden kann, dann will man auch nicht mehr von diesem Lehrer unterrichtet werden. Deshalb sollte vielleicht derjenige, der autoritär ist, kein Lehrer werden.

 

Prof. Dr. Roland Reichenbach ist Ordinarius für Pädagogik und Co-Leiter des Forschungs- und Studienzentrums für Pädagogik an der Universität Basel und der Pädagogischen Hochschule FHNW und Mitherausgeber der „Zeitschrift für Pädagogik“.

 

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